Desmond Tutu war Seelsorger, Hirte, Mahner, Rebell und radikaler Christ – und ein Mensch, dessen Heiterkeit ansteckend war. Ein persönlicher Nachruf auf den Friedensnobelpreisträger und Kämpfer gegen die Apartheid.
Von Bartholomäus Grill, Kapstadt
Am Ende des 20. Jahrhunderts verglichen Forscher das Erbgut von ausgewählten Menschen aus aller Welt, von Europäern und Asiaten, Schwarzen und Weißen, berühmten Wissenschaftlern und indigenenJägern und Sammlerinnen. Desmond Tutu war die Testperson ABT, sein Genom wurde stellvertretend für die Sprachfamilie der afrikanischen Bantu-Völker entschlüsselt.
Das Ergebnis hat ihn nicht überrascht. „Jetzt ist wissenschaftlich bewiesen, was wir Theologen immer gesagt haben“, rief er, als wir ein paar Tage nach der Auswertung der Studie in seinem Kapstädter Büro Tee tranken. „Wir sind alle gleich. Die Menschheit ist eine große Familie.“
Tutu hatte gerade seinen 78sten Geburtstag gefeiert, er war an diesem Tag im Herbst 2009 besonders aufgedreht. Endlich wurde ex cathedra bestätigt, was für ihn, den Befreiungstheologen, selbstverständlich war und wofür er sein Leben lang gekämpft hatte: für die Anerkennung der
Afrikanerinnen und Afrikaner als gleichwertige Menschen, als Geschöpfe Gottes, die sich in nichts von allen anderen Erdbewohnern unterscheiden.
»Heiliger Terror« nannten ihn weiße Politiker abschätzig
Tutu wippte vergnügt auf seinem Stuhl hin und her und deutete auf den Wandteppich hinter sich. „Wir sind die Regenbogen-Nation“, stand da in großen bunten Lettern. Er hatte einst dieses Wort erfunden; es bezeichnet der Traum von einer multiethnischen Gesellschaft nach dem Untergang der Apartheid, den auch Nelson Mandela, der erste schwarze Präsident Südafrikas, geträumt hat. Desmond Mpilo Tutu war sein wortgewaltigster Mitstreiter auf dem langen Weg in die Freiheit. Er klagte die Menschenrechtsverletzungen des weißen Unrechtsregimes an, leistete den Opfern der Gewaltexzesse Beistand, rief zu internationalen Sanktionen auf. Er war Seelsorger, Hirte, Mahner, Rebell, ein radikaler Christ, der Gewaltfreiheit predigte und den Rassismus verdammte.
„Heiliger Terror“ nannten ihn weiße Politiker abschätzig. Sie sperrten ihn mehrfach ein, aber sie wagten es nicht, ihn wie so viele schwarze Widerstandskämpfer liquidieren zu lassen – denn dieser furchtlose Kirchenvertreter hatte 1984 den Friedensnobelpreis erhalten und war seither fast genauso berühmt wie Mandela. Er war eine Projektionsfigur, in der viele Menschen ihre universellen Ideale erkannten, die Gleichheit aller, die Utopie der Weltfamilie.
Ich habe Tutu im Laufe der Jahrzehnte oft getroffen, schon unsere erste Begegnung an Christi Himmelfahrt 1995 bleibt unvergesslich. Er war damals noch anglikanischer Erzbischof von Kapstadt, erwähnte aber das Kirchenfest gar nicht, und ehe wir über politische Themen sprachen,
erklärte er mir aus gegebenem Anlass die Regeln des Rugby-Spiels, von denen die Deutschen, wie er sagte, keine Ahnung haben. Auf dem Stoffmuster eines Stuhls beschrieb er die tryline, sprach über rucks and mauls. An jenem Tag durfte die südafrikanische Nationalmannschaft nach langer Verbannung erstmals wieder bei einer Weltmeisterschaft auflaufen, noch dazu im eigenen Land. „Unsere Springboks werden heute die Australier aufmischen“, prophezeite der begeisterte Rugby-Fan Tutu – so geschah es dann auch.
Der kleine, grauhaarige Mann im violetten Ornat hüpfte herum wie ein Springteufel, seine Heiterkeit, sein Humor waren ansteckend. Und sein schelmisches Kichern beschreibt die englische Sprache viel besser: chuckles, giggles, cackles. Manchmal kam er mir vor wie der afrikanische
Bruder von Don Camillo. Seine Landsleute nannten ihn „Arch“, eine Kurzform von Archbishop, in der sich seine Volksnähe ausdrückte. Er war zugänglich, unkompliziert und von entwaffnender Geradlinigkeit. Zugleich wurde er wie der Dalai Lama als spiritueller Führer verehrt, als Geistlicher, der die Gabe hatte, selbst in dunkelsten Stunden Zuversicht zu spenden.
Ich erinnere aber auch Augenblicke, in denen er verzweifelt wirkte. Zum Beispiel als die Nationalheldin Winnie Mandela vor der Wahrheitskommission aussagte, vor dem Ausschuss, der die Verbrechen während der Apartheid aufklärte. Die Ex-Frau von Nelson Mandela hatte in
ihrem Allmachtswahn schwere Straftaten begangen, aber sie zeigte nicht das geringste Schuldgefühl oder gar Reue. Am Ende der Anhörung appellierte Tutu, der Vorsitzende der Kommission, an ihr Gewissen: „Ich spreche zu dir aus tiefer Liebe. Du bist eine der größten Persönlichkeiten unseres Freiheitskampfes... steh‘ auf und sag‘ ein einziges Mal, dass die
Dinge furchtbar schiefgelaufen sind. Ich flehe dich an.“ Seine Stimme bebte, er war den Tränen nahe. Winnie zauderte. Und dann, endlich, hauchte sie: „Die Dinge sind furchtbar schiefgelaufen.“
Hochpolitischer Kleriker, doch mit stets religiösen, nicht
politischen Motiven
Wir Korrespondenten schrieben ihre Aussage in unsere Notizbücher. Es war im Rückblick eine der niederschmetterndsten Szenen in den dreißig Monaten einer qualvollen kollektiven Selbsterforschung, doch gerade dieser Tiefpunkt offenbarte Desmond Tutus menschliche Größe. Er war bis an die Grenze der Selbstentwürdigung gegangen – und rang Winnie Mandela ein Eingeständnis ihres Versagens ab. Selbst diese hochmütige Frau, die sich gerne als unantastbare Ikone des Widerstands inszenierte, beugte sich am Ende seinem Versöhnungswillen.
Tutu war ein hochpolitischer Kleriker, doch seine Motive waren stets religiöser, nicht politischer Natur, und er wiederholte oft seine Maxime: Vergeben, aber nicht vergessen. Dennoch erntete er als treibende Kraft der Wahrheitskommission auch Kritik, vor allem von der jüngeren Generation. Weil die meisten Täter ungestraft davonkamen, während ein Großteil der Opfer bis heute auf Entschädigungen wartet und nach wie vor in Armut lebt, warf man ihm vor, die Gerechtigkeit auf dem Altar der Wahrheit geopfert zu haben. Aber er handelte eben in der tiefen Überzeugung, dass Vergeltung und Rache oder gar eine Art Siegerjustiz den inneren Frieden im neuen Südafrika gefährdet hätten.
Der Autor (l.) mit Tutu in Berlin Foto: Privatarchiv Grill
Ein paar Jahre später trafen wir uns bei der Einweihung eines globalen Kunstprojekts im Berliner Tiergarten. Tutu segnete einen zwanzig Tonnen schweren Stein aus Afrika, der neben Findlingen aus anderen Kontinenten das Prinzip Hoffnung symbolisierte. Seine Hoffnung auf eine bessere
Zukunft im eigenen Land hatte längst erste Risse bekommen. Er haderte mit der miserablen Regierungsführung des African National Congress (ANC), der Partei der Befreier, schimpfte über die wachsende Korruption, geißelte die Habgier und moralische Verkommenheit der neuen
schwarzen Machtelite.
In der Amtszeit von Präsident Jacob Zuma, eines Kleptokraten, der das Land hemmungslos plünderte, sollte sich Tutu angewidert vom ANC abwenden und erklären, dass er diese Partei nie wieder wählen werde.
Nun bekamen auch die Genossen seinen alttestamentarischen Zorn zu spüren.
Als am 26. Dezember 2021 bei der Weihnachtsmesse in der Kapstädter St. George’s Cathedral mitgeteilt wurde, dass Desmond Tutu vor wenigen Stunden verstorben sei, weinten viele Besucher. Das prächtige neugotische Gotteshaus, ein Monument des britischen Kolonialismus, war
seine Kirche. Hier stand er 1989 an den Spitze eines Demonstrationszuges, der gegen die Rassentrennung protestierte. Hier hat er von der Kanzel verkündigt, dass die Apartheid Sünde sei. Hier versammelte er eine bunte Mischung von Gläubigen, Schwarze, Weiße und sogenannte Coloureds, Menschen aus Nigeria, England, Simbabwe oder Ghana, und jedes Mal, wenn ich das Hochamt besuchte, war es mir, als sei unter diesem Dach Desmond Tutus Vision von der Regenbogen- Nation Wirklichkeit geworden.
Hamba kahle, Arch. Adieu, großer alter Mann!
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